Postanthropozentrismus
Der Postanthropozentrismus kennzeichnet die Abkehr vom Menschen als zentralem Bezugspunkt, von dem aus wir uns innerhalb eines planetarischen Rahmens verstehen, bewerten und positionieren. Erkenntnistheoretisch ist er eine Anerkennung dessen, dass das Planetarische unabhängig von unserer Wahrnehmung oder unserem Urteil existiert; ethisch betrachtet, erkennt der Postanthropozentrismus an, dass der inhärente Wert nicht-menschlichen Lebens und ökologischer Systeme über ihre Nützlichkeit für menschliche Belange hinausgeht. Die Naturwissenschaften konnten sich diesem Paradigmenwechsel vergleichsweise mühelos anpassen, während das Erbe europäischer humanistischer Traditionen, das die Vorrangstellung des Menschen betont, eine tiefgreifende Neuausrichtung unseres Verständnisses von Koexistenz erforderlich macht und damit eine besondere Herausforderung darstellt. Ähnlich wie andere grundlegende Umwälzungen in der Geschichte des menschlichen Denkens ist der Postanthropozentrismus ein ernüchternder Prozess, bei dem wir uns von als selbstverständlich angesehenen Werten und Perspektiven lösen müssen – insbesondere von der Vorstellung, dass der Mensch stets im Mittelpunkt steht. Er erfordert ein komplexes und multidirektionales Verständnis unserer Beziehungen zu anderen Lebensformen und zur Umwelt.
Der Post-Anthropozentrismus ist jedoch nicht automatisch eine progressive oder sozial gerechte Orientierung. Der Begriff kann genutzt werden, um die Geschichte der Klimakrise zu entpolitisieren, indem er die Verantwortung über das gesamte Spektrum der Menschheit hinweg nivelliert. Oder, wie Rosi Braidotti betont, kann ein kapitalistischer Post-Anthropozentrismus auf zynische Weise den Wert aller lebenden Organismen „demokratisieren“, indem er menschliche und nicht-menschliche Lebensformen gleichermaßen als „bloße Ressource“ behandelt. In Anlehnung an feministische und dekoloniale Ansätze, die vermeintlich natürliche Vorstellungen von Geschlecht und Rasse innerhalb menschlicher Gesellschaften hinterfragt haben, erweitert der Post-Anthropozentrismus diese kritische Perspektive auf nicht-menschliche Lebenswelten. Er erforscht, wie Subjektbildung aus einem interdependenten Selbstverständnis heraus entsteht – ein Konzept, das Braidotti durch ihre Verbindung von Spinozas Immanenzphilosophie und feministischer Theorie entwickelt. Der Post-Anthropozentrismus ist keine Verleugnung des Menschseins oder unserer anthropomorphen Verfasstheit, sondern eine relationale Positionierung in Lebenswelten, die jenseits menschlicher Ähnlichkeiten existieren und nicht ausschließlich für uns da sind.
Autorin: Patricia Reed
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