Klimawandel als historischer Wendepunkt
Ab dem späten 17. Jahrhundert, der Zeit der Aufklärung, wurde es üblich, strikt zwischen der Geschichte der Natur und der Geschichte der Menschen zu unterscheiden. Wie der Historiker Dipesh Chakrabarty erklärt, hebt die Entdeckung anthropogener Ursachen für die Klimakrise diese Unterscheidung auf und fordert ein Umdenken sowie eine Neuformulierung der Geschichtswissenschaft selbst. Der Klimawandel als historischer Wendepunkt erfasst den veränderten Blickwinkel auf Geschichte in einer Zeit, in der menschliche und geologische Zeitmaßstäbe zusammenfließen. Auf dem Erbe der postkolonialen Studien aufbauend und deren Beitrag zum Verständnis unserer historischen Gegenwart nutzend, fordert Chakrabarty eine stereoskopische Betrachtung: Globalgeschichte als menschenzentrierter Bericht unserer Aktivitäten, Gewalttaten, Wirtschaftsformen und Produktionsweisen einerseits; und das Planetarische, in dem der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt steht und der Schwerpunkt auf dem Geflecht von Verbindungen liegt, in das er eingebettet ist.
Die anthropogene Klimakrise wird von Chakrabarty als nicht-intendiertes Ergebnis (gewisser) menschlicher Handlungen und Entscheidungen beschrieben, beginnend mit dem industriellen Kapitalismus und dramatisch beschleunigt in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Diese potenziell tödlichen „Unfälle“ – ein Ökonom würde sie als „negative externe Effekte“ bezeichnen – haben Zweifel an der Nachhaltigkeit der energieintensiven Freiheiten aufkommen lassen, die (manche) Menschen genießen. Infolgedessen werden tradierte historische Konzepte westlicher Freiheit, die zu einer globalen Sichtweise gehören, aus einer planetarischen Perspektive kritisch betrachtet. Chakrabarty wirft eine grundlegende Frage auf: Wie lässt sich die kollektive Natur der Klimakrise mit politischen Systemen vereinbaren, die individuelle Freiheitsrechte in den Mittelpunkt stellen? Chakrabarty erläutert, dass die Geschichtswissenschaft lernen muss, die Geschichte ökonomischer Systeme mit der Gattungsgeschichte des Menschen zu verbinden. Er fragt dabei, wie wir „eine universelle Geschichte des Lebens – also universelles Denken – konzipieren können, ohne dabei die berechtigte postkoloniale Kritik am Universalitätsanspruch aufzugeben“. Durch das neue Bewusstsein unserer planetarischen Rolle wird die Idee dessen, was Geschichte bedeutet, neu definiert – genau dann, wenn wir versuchen, diese völlig unterschiedlichen Zeitskalen und Prozesse miteinander zu verbinden.
Die im Konzept des „Klimawandels als historischer Wendepunkt“ enthaltenen Vorschläge verändern unser Verständnis davon, was ein Archiv ist, wo es sich befindet und welche Medien „Geschichten“ aufzeichnen und erzählen. In Chakrabartys stereoskopischer Sicht sind Archive nicht mehr nur von Menschen geschaffene Sammlungen geordneter Dokumente und Artefakte, sondern die Erde selbst wird zum natürlichen Datenspeicher, der menschliche und nicht-menschliche Spuren planetenweiter Transformationen in lokalen Beispielen registriert. Der Grund eines Sees in Zentralkanada, der Plutonium-Sedimente enthält, ist nicht weniger ein „Archiv“, das eine geohistorische Epoche dokumentiert, als eine Sammlung geschriebener Briefe oder unterzeichneter Verträge, die im Museum verwahrt wird. Die vielfältigen Formen des „Lesens“ oder Entzifferns, die für den von Chakrabarty befürworteten integrativen Ansatz zur Geschichte nötig sind, erfordern transdisziplinäre Zusammenarbeit. Über die Geschichtswissenschaft hinaus zeigt Chakrabartys, wie planetarisches Denken die etablierte Art und Weise infrage stellt, in der diese Disziplin praktiziert wurde. Damit bietet er einen Leitfaden dafür, wie auch andere Fachgebiete ihre eigene Neuausrichtung angesichts der planetarischen Erkenntnis in Augenschein nehmen können.